Früher war alles besser - wirklich?

Wie viele Menschen frage auch ich mich: in was für einer Welt leben wir gerade? Es fühlt sich so an, als würde sich alles verdrehen. Nichts ist mehr, wie es früher war. Denn früher war alles besser. Ein Spruch, bei dem man unweigerlich die Augen verdreht. Aber ist es nicht auch wirklich so? War früher denn nicht wirklich alles besser? Ich glaube, heute können wir diesen Spruch getrost anwenden.


Corona, Krieg in Europa, Klimawandel.


Wir werden gestört in unserer kleinen perfekten Welt. Wir leiden plötzlich mit. Sind in unserem bequemen Dasein beeinflusst von Preissteigerungen und Konsumgütermangel. Das war früher nicht so. Früher war alles besser.

In der Tat.


Aber von welchem Früher sprechen wir denn hier?


Von dem Früher vor Corona? Von dem Früher vor Donald Trump? Von dem Früher vor Wladimir Putin? Von dem Früher, als es noch kein Internet gab? Von dem Früher, als wir nicht mit schnurgebundenen Telefonen telefoniert haben? Von dem Früher vor Facebook, WhatsApp und TikTok? Von dem Früher, als die Mauer noch stand? Von dem Früher, als die Frauen noch am Herd standen? Von dem Früher, als Homosexualität noch verboten war? Von dem Früher, als der kalte Krieg noch für klare Fronten gesorgt hat?


War es denn wirklich jemals besser? Hat nicht jede Generation mit Umwälzung und Veränderung zu kämpfen? Und ist es nicht immer eine Frage des Standpunktes? Oder besser gesagt: des Standortes?


Wenn jemand über den Krieg in Syrien spricht, denken wir an die Flüchtlinge, die zu uns kommen. Aber Syrien? Syrien ist sehr weit weg. Genau wie die vielen schwelenden Konflikte in Afrika, wie das Leid der Uiguren oder die Rodung des Amazonas. Das alles hat mit unserem alltägliche Leben nichts zu tun. Zumindest glauben wir das. Reden es uns ein, damit es uns in unserem Leben weiterhin gut geht. Denn unser Standort ist hier. In Deutschland. Mitteleuropa. Westlich. Zivilisiert. Erste Welt.


Und in der ersten Welt ist es eher angebracht nicht über den Tellerrand zu schauen. Denn das, was man dort zu sehen bekommt, kann nur erschrecken.


Flüchtlinge auf Booten, die nicht an Land gelassen werden. Indigene Völker, die umgesiedelt werden müssen, weil ihr Lebensraum durch den steigenden Meeresspiegel zu verschwinden droht. Berge, die auseinanderbrechen und Flächenbrände in Sibirien.  


Aber: Wir wollen kein Leid sehen. Wir wollen in Ruhe unser Leben genießen. Wie bisher. Ohne Einschränkungen. Ohne beteiligt zu sein. Vor allen Dingen wollen wir nicht beteiligt sein. Beteiligt sein am Leid. Am Leiden.


Und doch. Hier sind wir. Corona. Ahrtal. Ukraine. Inflation. Energiekrise. Plötzlich wissen wir alle, wie die Gasreserven des Landes aussehen und was ein Antigen-Schnelltest ist. Jeder kennt die Panzerhaubitze 2000 und weiß was das HIMARS ist. Und alle haben Angst, dass ihr eigenes kleines Leben sich verändert. Zum Schlechteren. Und das wird es. Denn: Früher war alles besser.


Eine verrückte, verdrehte Welt in der wir also leben.


Oder?


Eine traurige Welt in der wir denken, dass früher alles besser war und dabei vergessen, dass alles, was heute unsere gegenwärtige Realität darstellt aus Menschenhand erwachsen ist.


Vielleicht war es früher doch nicht besser.



Vielleicht war es früher bloß noch nicht so schlimm…